Andrej Tarkowskij: „Die versiegelte Zeit“ 


Diagonale-Webnotizen 03/2009
Textauswahl und Bilder von Bo Chen

Je näher der Zug herankam, desto größer wurde damals die Panik im Zuschauersaal: die Leute sprangen auf und rannten hinaus. In diesem Moment wurde die Filmkunst geboren. Und das war nicht nur eine Frage der Technik oder einer neuen Form, die sichtbare Welt wiederzugeben. Nein, hier war ein neues ästhetisches Prinzip entstanden.

Dieses Prinzip besteht darin, dass der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst und Kultur eine Möglichkeit gefunden hatte, die Zeit unmittelbar festzuhalten und sich diese zugleich so oft wieder reproduzieren zu können, also zu ihr zurückzukehren, wie ihm das in den Sinn kommt.

Genau in diesem Sinne enthielten die ersten Lumière-Filme den Kern des neuen ästhetischen Prinzips. Doch gleich danach nahm der Kinematograph gezwungenermaßen einen außerkünstlerischen Weg, der den kleinbürgerlichen Interessen und Vorteilen am meisten entgegenkam. Im Verlaufe von zwei Jahrzehnten wurde so ungefähr die gesamte Weltliteratur und eine große Menge von Theaterstoffen „verfilmt“. Der Kinematograph wurde als eine einfache und attraktive Theater-Fixierung benutzt. Das Kino ging damals den falschen Weg, und wir sollten uns klar darüber sein, dass wir die traurigen Früchte dieses Irrtums noch heute ernten. Ich will dabei noch nicht einmal vom Unglück des bloß Illustrativen sprechen: Das größte Unglück bestand nämlich eigentlich darin, dass man eine künstlerische Applikation jener eminent unschätzbaren Möglichkeit des Kinematographen ignorierte - die Möglichkeit, die Realität der Zeit auf dem Zelluloidstreifen zu fixieren.




Weshalb gehen die Leute eigentlich ins Kino? Was treibt sie in einen dunklen Saal, wo sie auf einer Leinwand zwei Stunden lang ein Spiel von Schatten beobachten können? Suchen sie dort Ablenkung und Unterhaltung? Brauchen sie etwa eine besondere Art von Narkotikum? In der Tat existieren überall in der Welt Unterhaltungskonzerne und -trusts, die Film und Fernsehen ebenso wie auch viele andere Formen der darstellenden Künste für ihre Zwecke ausbeuten. Doch nicht etwa hiervon sollte man ausgehen, sondern sehr viel mehr von dem prinzipiellen Wesen des Kinos, das etwas mit dem Bedürfnis des Menschen nach Weltaneignung zu tun hat. Normalerweise geht der Mensch ins Kino wegen der verlorenen, verpassten oder noch nicht erreichten Zeit. Er geht dorthin auf der Suche nach Lebenserfahrung, weil gerade der Film wie keine andere Kunstart die faktische Erfahrung des Menschen erweitert, bereichert und vertieft, ja diese nicht einfach nur bereichert, sondern sozusagen ganz erheblich verlängert. Hierin und nicht etwa in „Stars“, abgedroschenen Sujets und ablenkender Unterhaltung liegt die eigentliche Kraft des Films.

Bo Chen ist Filmemacher und hatte bereits mehrfach Filme bei der Diagonale.


Bo Chen zu Andrej Tarkowskijs „Die versiegelte Zeit“