Diagonale-Webnotizen 06/2009
Von Drehli Robnik
Im Rahmen seiner politisch-ästhetischen Theorie hat (Zwischendurch-Filmkritiker) Jacques Rancière jüngst wiederholt auf eine „ethische Wende“ in der gegenwärtigen Kunst und Politik hingewiesen; dies zumal im Rahmen seiner Entgegensetzung von Politik im strengen Sinn, als Akt unfundierter Subjektbildung und „Desidentifizierung“ im Streit, zur Ethik als Denken des Festhaltens am Ethos, am fundierenden Aufenthaltsort von Kultur, Identität, Prägung. Was das heißt, lässt sich anhand dreier aktueller Spielfilme skizzieren, die jeweils Schuld-Fragen aufwerfen.
Die US-deutsche Koproduktion The Reader – Der Vorleser fragt, prominent zumal im Trailer: „Wie schuldig kannst du werden?“ Die Frage überschreibt eine Entdifferenzierung und Überlagerung von Schuldgefühlen: Unter der heimlichen, schuldgeplagten Affäre der nachkriegsdeutschen Straßenbahnschaffnerin Ende Dreißig mit einem Teenager guckt die später gerichtsanhängig werdende Tätigkeit der Frau als KZ-Aufseherin 1943-45 hervor; die Schuld der Angeklagten im Rahmen der NS-Massenverbrechen überdeckt ihrerseits deren Nicht-Lesen-Können. Indem die Frau ihren Makel verheimlicht, nimmt sie im Prozess die Gesamtschuld auf sich und geht für 20 Jahre ins Gefängnis.
So perfid will es das erfolgsromanbasierte Drehbuch: Die Leseschwäche der Frau, die bei den Fick-Meetings mit dem Schulbuben durch Vorlesen-Lassen von Weltliteratur überspielt wird, erscheint als Königsdisziplin des Dirty Secret und Scharnier zwischen schuldbehafteter Leidenschaft und der Schuld an im Lager gezielt zugefügtem Leid; das Leseritual – später fortgesetzt durch Zusendung selbstgemachter Audiotapes mit Buchlesungen ins Gefängnis – macht den Sex, die ostentativ ausgespielte Entblößung der Körper, kinky und den Massenmord an den Juden wieder interessant. Denn letzterer, sowie mit ihm verbundene Schuld- und Verdrängungskomplexe, das setzt sich der Film als sein Ausgangsproblem, sind heute medienkulturell so gewohnt wie nackte Haut (zweimal Ethos „nackten Lebens“?). Erst die Verbindung von Sex mit Holocaust, sowie dieses (einst auch im Nazi-Porn-Kitsch der 1970er geballten) Komplexes mit buchseitenraschelndem Bildungsbürgerkino erzeugt eine kritische Masse an Schuld-Ethos, das zur Nobilitierung westlichen Genießens taugt. In die Position der Über-Ich-Instanz, deren Eiseskälte Mehrheits-Genießen als verbotenes, insofern raffiniertes konstituiert, bugsiert der Film am Ende die Tochter einer KZ-Überlebenden: Die forciert würdevolle, hochkultivierte jüdische alte Dame verweigert dem alternden Vorleser und seiner nunmehr toten Angebeteten die Absolution, spricht ihnen aber dadurch die Weihen des Tragischen zu. Sie tritt an die Stelle jenes Eisbergs, mit dem Kate Winslet – Oscar-prämiert für ihre Leseschwäche-Rolle – in ihrem für immer erfolgreichsten Film schon direkter kollidiert ist. Winslet spielt ja oft Figuren, deren sinnliches Genießen als obszöne Übertretung inszeniert, mit traumatischen Toden assoziiert und insofern als tragisch aufgewertet ist (Heavenly Creatures, Titanic, Revolutionary Road). Oder geht es (abgesehen von Winslets Rollenbio und von neuen Wendungen schamloser, Schuld-Identitätskapital anhäufender Holocaust-Appropriation) da etwa um aktuell Gängiges – um Bild-Werdungen des Trends zum Damensex mit jüngeren Männern, des Erfolgsformats Hörbuch oder von Ansätzen zur Behebung rezenter Bildungsnotstände (der Holocaust als letzte strenge Schule)? Jedenfalls sind „wir“, so buchstabiert The Reader tiefsinnig aus, offenbar alle irgendwie faszinierend, weil für irgendwas – man weiß nicht was – schuldig (und zur Versagung gezwungen durch eine dürre Jüdin), und man sieht ja nur mit entblößtem Herzen gut, und man liest gemütlich erst mit nacktem Popo.
Skizziert sei hier noch die Wende ins Ethische bzw. aus diesem heraus in zwei im Ländlichen angesiedelten Filmen um schuldverstrickte Figuren: Im Anschluss an den Academy Award-prämierten Die Fälscher könnte der heuer für den „Auslands-Oscar“ nominierte Revanche (ein in Sachen Würdigung und Abgeltung vielsagender Titel) auch Die Echter heißen, geht es darin doch um Wiederfinden der Achtung vor dem Echten. Hatte Ruzowitzkys Satire ein postfordistisches (Arbeits-)Ethos von Selbstverwertung-qua-Selbstneuerfindung in den Holocaust rückprojiziert, so beschwört Spielmanns Tragik virtuos ein schicksalhaft sich durchsetzendes Fügen aller Einzelinteressen in eine transzendentale Ordnung, die allem seinen Platz (sein Ethos) gibt und den Wind im rechten Moment über den Teich streichen lässt: Ohne dass sie um ihre Rollen füreinander wissen, haben am Ende der schuldgeplagte Polizist seine Absolution, dessen Frau ein Kind, der verwahrlosungsbedrohte Hof einen neuen Bewirtschafter (sowie genug Holz für drei Energiekrisen) und der stadtflüchtige Strizzi einen neuen Sinn im Leben samt demütiger Freude am Geschmack von Winteräpfeln. Die narrative Entsorgung seiner russischen Geliebten und des Altbauers rundet das Bild einer sich hinter dem Rücken der Menschlein einstellenden Welt-Ordnung ab, die früher „Gott“ und später „Markt“ hieß und für die Wirtschaftskrisenzeiten noch hässlichere Namen mit „F“ parat haben.
Das Messianische, der Markt, das Landleben und heimliche Liebe schließlich auch in Jerichow. Nur soviel: Revanche heißt hier nicht Abgeltung als Wiedergutmachung, sondern Tausch als notwendig ungleicher; wenn hier die Frau weder (demente bzw. traumatisierte) Sturschädelmännchen umsorgen noch gebären, sondern nur Geld will, dann ist diese Anerkennung von Heillosigkeit ein Schritt zur Aushebelung der Verstrickung ins Ethische und seine „Gründe“. Und es geht um eine Wendung von Schuld zur Scham: Würde der Film damit enden, dass der an die Stelle des urdeutschen Buchhalter-Gatten getretene türkische Unternehmer seinen baldigen natürlichen Abgang verkündet und die blonde Frau, die ihm im Sinn des Bildes „nicht zusteht“, als seine aufopfernde Pflegerin noch zwei Monate warten, bis sie sich das Firmenvermögen mit dem Muskelmann teilen kann, der die sein Kinderzimmer bevölkernden Ritterphantasien nicht leben und Flieger nur bei der Gurkenernte sein kann – würde der Film so enden, wie er uns kurz nahe legt, es uns zu wünschen, wäre alles ethisch paletti: Gründung des Glücks im Gefühl einer ganz privaten Schuld, für die man nicht haftbar gemacht wird. Aber eine solch (wirtschafts)wundersame Fügung verdirbt die Inszenierung, indem sie blitzschnell dem Türken den Subjektstatus eines Anklägers zuspielt, der Handlungsmacht ultimativ an sich reißt, die braven, hübschen Deutschen durchschaut und sie beschämt: durch den Zuruf „Schweine!“ und, einmal mehr, durch Übererfüllung ihres – und notwendig „unseres“ – Begehrens qua Freitod. Ein unethischer Film, der (wie weiland Hitchcock) das, was sein Publikum will und sieht, in sein Fallliniengeflecht einverwebt. Gerade insofern bleibt am Ende kein Heil – weder im bewahrten Dirty Secret noch im wiedergefundenen Boden. Und das ist auch gut so.
Drehli Robnik
Historiker, Filmwissenschaftler, lehrt in Wien, Brno, Frankfurt/M; forscht am Ludwig Boltzmann-Inst. für Geschichte und Gesellschaft; Autor von: Geschichtsästhetik und Affektpolitik. Stauffenberg und der 20. Juli im Film 1948-2008. (Wien 2009); „lebt“ in Wien-Erdberg.