Eine Wiener Drehbuchautorin im Exil
Paris 1933. Am Boulevard du Montparnasse – wo man jetzt alle Sprachen hört, außer Französisch – sitzt eine junge Frau im Café du Dôme. Der Großteil der Gäste sind Maler und Schriftstellerinnen aus dem umliegenden Viertel, viele von ihnen zugewandert; dann jede Menge unfreiwilliger Wirtschaftsemigranten, die versuchen, Luftgeschäfte abzuwickeln. Ein Pariser hätte sich kürzlich im Dôme erschossen – aus Heimweh, sagt man. Auch Chefredakteure diverser Journale trifft man hier, auf der Suche nach Leuten, die ihnen schnell und billig Beiträge liefern. Einem von ihnen, Georg Bernhard, kommt es nicht ungelegen, dass Anna Gmeyner, scheint’s, ein fertiges Manuskript in der Tasche hat, das sich dazu eignet im „Pariser Tageblatt“ in 15 Fortsetzungen abgedruckt zu werden. „Mary Ann wartet“, so der Titel der in Schottland angesiedelten Liebesgeschichte, passt nicht nur gut ins Feuilleton der erst unlängst gegründeten einzigen Tageszeitung des deutschsprachigen Exils, sondern steht auch programmatisch für die Situation einer aufstrebenden Autorin, die sich in einer ähnlichen Lage des Wartens befindet wie ihre Heldin.
Als älteste von drei Töchtern des Ehepaars Rudolf und Luise Gmeyner, kommt sie am 16. März 1902 in Wien zur Welt. Der Vater ist Rechtsanwalt. Lilly, der Mutter, obliegt die Erziehung von Anna, Alice und der kleinen Elisabeth, die alle Kitty nennen. Ins Haus Garnisongasse 3 im neunten Wiener Gemeindebezirk zieht nach einer gescheiterten Ehe außerdem die sehr patente Tante Elsa, die als eine der ersten Frauen an der Universität Wien in Chemie und Biologie promoviert und nun mit ihrem Sohn Fritz, dem späteren Physiker Friedrich Georg Houtermans, Tür an Tür im selben Stockwerk mit Familie Gmeyner wohnt. Die Kinder wachsen in einer geborgenen Atmosphäre auf, man widmet sich den schöngeistigen Dingen, dem Theater, der Literatur und der Musik; Anna entwickelt früh eine soziale Ader und engagiert sich für Benachteiligte. Im Wintersemester 1920/21 inskribiert sie sich an der Universität Wien in deutscher und englischer Philologie, bricht aber im Gegensatz zu ihrer Schwester Alice, die 1927 über „Die Opern M. A. Caldaras“ dissertiert, das Studium ab. Nicht unerheblichen Anteil daran dürfte auch die Bekanntschaft mit einem mittellosen Studenten der Naturwissenschaften, Berthold Paul Wiesner, gehabt haben, in den sich Anna zu verlieben glaubt. Die Eltern sind strikt gegen eine Eheschließung, doch das junge Paar brennt durch. Na ja, der Grund zum Aufbruch nach Berlin war vielleicht weniger dramatisch, sondern eher darin begründet, dass Wiesners Forschungen über „Ovar Transplantation bei der Wanderratte“ in der fortschrittlichen deutschen Hauptstadt mehr Interesse erregte als in Wien, und Anna die Umgebung verlassen wollte, in der sie traditionellen Vorstellungen zufolge immer wieder an ihr Scheitern erinnert wurde.
Mit ins neue Leben nehmen die Jungvermählten ihre 1925 geborene Tochter Eva Maria Charlotte Michelle. Rosig sieht es für alle drei nicht aus, wie Anna später diese Zeit Revue passieren lassen wird: „Er hat nichts, sie hat nichts, und sie heiraten ohne Geld. Ihr Vater hat im Krieg alles verloren. Er kränkelt und ihn bedrückt eine furchtbare Sorgenlast. Die Sorgen beginnen auch bei ihr sehr bald. Sie bekommt ein Kind, wird krank, ist gezwungen, um jeden Preis Geld zu verdienen. Sie zieht nach Berlin, das nach wenigen Monaten ihre wirkliche Heimat wird. Sie unterrichtet an einer
Schule, schreibt Artikel, hält Kurse bei Arbeiterkindern. Sie ist glücklich und kann nicht genug schaffen. Die Folge der Ueberarbeitung dieses Winters ist eine schwere Krankheit. Sie muß ihre Stelle aufgeben ...“1 Da passt es gut, dass Wiesner, der mittlerweile bei Ullstein seine wissenschaftliche Studie „Das Problem der Verjüngung“ vorgelegt hat, der Ruf an die Universität Edinburgh erreicht. Für Anna bedeutet das, in Schottland Zeitzeugin eines der wichtigsten Ereignisse dieser Periode zu sein, des großen Bergarbeiterstreiks von 1926. Sie fährt in die Zechen und macht sich vor Ort ein Bild der harten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Kumpel und ihrer Familien. Das Stück, in dem sie ihre Erfahrungen niederschreibt, heißt „Heer ohne Helden“ und handelt von einer skrupellosen Werksleitung, dem Schicksal verschütteter Bergleute und den Ängsten ihrer Angehörigen. Als ihr dramatisches Debüt am 27. Oktober 1929 in Dresden seine Uraufführung erlebt, ist die Autorin, deren Ehe nicht von Dauer war, bereits geschieden und mit ihrem Kind wieder nach Deutschland zurückgekehrt.
Genauer gesagt nach Berlin. Dort lernt sie ein vielgestaltiges kulturelles Leben kennen, dem sie nur zu gerne angehören würde: alles vibriert, befindet sich im Aufbruch, der Mut zum Experiment bestimmt das Geschehen der ausgehenden zwanziger Jahre. Brecht und Piscator haben sich längst ihren Platz erobert, aber es sind die Jungen, die die politische Avantgarde vorantreiben. Einer davon ist Slatan Dudow, der im Januar 1930 mit seiner „Gruppe junger Schauspieler“ – arbeitslosen DarstellerInnen, die sich zu einem linken Tournee-Ensemble formiert haben – „Heer ohne Helden“ am Berliner Wallner-Theater inszeniert. Im selben Jahr begegnet Anna Gmeyner Künstlern, die sich in Filmkreisen bewegen, darunter Herbert Rappaport, zu der Zeit Mitarbeiter von G. W. Pabst und später selbst Regisseur, Hanns Eisler, der ihr „Lied der Bergarbeiter“ vertont, dem Sänger und Schauspieler Ernst Busch, der es im Radio und auf Schallplatte interpretiert. Dazu noch Bert Brecht, Ernst Toller und schließlich Erwin Piscator, für den sie als Dramaturgin gängige Stücke für die Aufführungen des Kollektivs adäquat bearbeitet; im Sommer 1931 wird sie Piscator begleiten, als dieser für die Produktionsfirma Meshrabpom der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) in Moskau eine Verfilmung von Anna Seghers’ Novelle „Aufstand der Fischer von St. Barbara“ vorbereitet. Die geplante deutsche Version, an deren Manuskript sie mitschreibt, wird nie realisiert, die russische kommt erst 1934 ins Kino.
Auch in Berlin betreibt Anna Gmeyner wieder investigativen Journalismus, diesmal im Wohnbezirk Siemensstadt und am Werksgelände. Eventuell fließen ihre Erfahrungen in zwei Projekte ein: einen Kurzfilm Dudows, der für die IAH Reportagen über die Wohnsituation des Proletariats herstellt, und ihr neues Stück mit dem Titel „Zehn am Fließband“, das 1932 von der Agitprop-Truppe „Kolonne Links“ bei einer Tournee in Magnitogorsk aufgeführt wird. Der Alltag der darin so treffend Beschriebenen gleicht dem ihren: „Sie lebt mit ihrem Kind in möblierten Zimmern, kämpft mit Wirtinnen und Wanzen, nicht selten mit richtigem Hunger. Ihr Vater stirbt, Mutter und Schwestern bleiben in Not zurück. Sie kann ihnen nicht helfen. Ihr Kind erkrankt schwer.“ 2
Gegen diese Tristesse schreibt die junge Frau, mit der es das Schicksal an wichtigen Wendepunkten ihres Lebens nicht immer gut meint, energisch an. Zur Verleihung des Kleist-Preises an Else Lasker-Schüler wird ihr neuestes Werk „Automatenbüfett“ – eine komisch grundierte Milieustudie bornierter KleinbürgerInnen – lobend erwähnt, und Herbert Ihering rezensiert im Dezember 1932 die Berliner Premiere unter Moriz Seelers Regie: „Die Vorzüge des Stückes liegen nicht in einzelnen Formulierungen, nicht im Stoff, nicht im Thema, sondern in der Gesamthaltung, in seiner Tonlage. Merkwürdig: Es gibt heute viele Begabungen und viele wichtige Themen. Aber die Begabungen und die Themen entwickeln sich getrennt voneinander. Anna Gmeyner ist eine Begabung im Unwichtigen, aber besonders begrüßenswert bei der Öde und Plumpheit der Spielpläne.“3 Sie hätte es mehr als verdient ihren Weg über die Bühnen Europas zu machen, doch im Mai darauf brennen die Bücher der in Deutschland verbotenen Autorinnen und Autoren, das Gros der politisch engagierten Künstler muss das Land verlassen, allzu viele Ersatzspielorte für kritische Zeitstücke stehen nicht zur Verfügung. Einer findet sich noch, in Zürich, wo Leopold Lindtberg im Schauspielhaus mit Therese Giehse in der Hauptrolle das „Automatenbüfett“ im Herbst 1933 inszeniert. Gmeyners letztes Werk, „Welt überfüllt“, gelangt nicht mehr zur Aufführung.
Zu dem Zeitpunkt ist Anna Gmeyner schon längst in Frankreich. Als Teil der fixen Entourage von G. W. Pabst, dem aus Wien stammenden Meisterregisseur, der sich bereits mit Don Quichotte und nun mit Du haut en bas im französischen Kino zu etablieren sucht. Bei Don Quichotte, in Nizza gedreht, ist sie erstmals konkret an der Entstehung eines Films beteiligt, für Du haut en bas – einer im Atelier in Paris produzierten Komödie rund um ein Wiener Mietshaus – zeichnet sie zum ersten Mal als alleinige Drehbuchautorin verantwortlich. In Paris, dem Zentrum des deutschsprachigen Exils, trifft sie auf alte Freunde, wie Paul Falkenberg, und neue Bekanntschaften, wie Jascha Morduch. Mit Falkenberg wälzt sie verschiedene Projekte, u. a. die Verfilmung ihres gemeinsamen Exposés „La route sans fin“ – eine Kriminalstory um falsche Identitäten. Den aus Russland stammenden Religionsphilosophen Morduch, der einen britischen Pass besitzt, heiratet sie und geht mit ihm im Frühjahr 1935 nach London.
Gemeinsam mit ihrer Tochter Eva, die sie zu sich holt, logiert die neue Familie in Belsize Park, der zwischen Hampstead und Swiss Cottage gelegenen deutschsprachigen Kolonie im nördlichen London, in der sich die EmigrantInnen sammeln und in deren unmittelbarer Nachbarschaft etwa Ernst Toller und Sigmund Freud mit Familie wohnen. Neben zwei Büchern, „Manja. Ein Roman um fünf Kinder“ (GB: „The Wall“, 1938/39) und „Café du Dôme“ (1941), die sie unter dem Pseudonym Anna Reiner veröffentlicht, versucht die Autorin auch hier wieder beim Film Fuß zu fassen. Berthold Viertel, dem befreundeten Wiener Theater- und Filmregisseur, ist sie inkognito bei The Passing of the Third Floor Back behilflich, mit einem grandiosen Conrad Veidt in der Titelrolle; dann werden John und Roy Boulting, Großbritanniens dynamisches Film-Brüderpaar der 40er und 50er Jahre, auf sie aufmerksam, die Pastor Hall nach dem Stück von Ernst Toller vorbereiten: „Ich hatte das Glück, einen Roman einer deutschsprachigen Schriftstellerin zu lesen, der gerade in England erschienen ist. Er hieß „The Wall“ und die Autorin war Anna Reiner, selbst eine Emigrantin aus Deutschland. Wovon ihr Buch handelt, ist mir nach so langer Zeit nicht mehr erinnerlich. Aber die Qualität ihres Schreibens – ihr Feingefühl und ihre Vorstellungskraft – beeindruckten mich stark, ebenso meinen Bruder John, als auch er das Buch las. Ihr Verleger (Secker & Warburg) stellte den Kontakt zu ihr her, wir trafen, unterhielten und fanden uns künstlerisch, wie ich gehofft und erwartet hatte, auf derselben Wellenlänge – und Anna wurde Teil des Teams von Pastor Hall. Sie war die mit Abstand wichtigste unserer Autorinnen und brachte meiner Meinung nach ein Maß an Zuneigung und Verständnis in die Arbeit ein, die wohl auch Toller selbst bewundert und gut geheißen hätte.“ 4
Für die Boultings arbeitet Anna Gmeyner noch an zwei weiteren Produktionen; dann endet ihre „Filmkarriere“ abrupt. Möglicherweise unter dem Eindruck von „The Blitz“, dem im Herbst 1940 einsetzenden Bombardement der deutschen Luftwaffe auf London, verlassen die Morduchs die Stadt und ziehen nach Devon, später nach Berkshire. Sie führen – bis zum Tod von Jascha, 1950 – eine glückliche Ehe; durch sein Interesse an religions- und zeitgeschichtlichen Themen inspiriert, veröffentlicht sie nun unter dem Namen Anna Morduch Bücher zum römischen Kaiser Julian, zu Mystikern der Kirche und zur Gralslegende. Eva, verheiratete Ibbotson, schlägt, wie ihre Mutter, gleichfalls eine Laufbahn als Schriftstellerin ein, nachdem sie, ganz der Vater, erst einmal ein Studium der Physiologie an der Universität Cambridge absolviert hat, und widmet sich dem Schreiben historischer Frauenromane und von Büchern für junge LeserInnen, etwa „Das Geheimnis von Bahnsteig 13“, in dem sie 1994 das magische Gleis im Londoner Bahnhof King’s Cross erfand, das Joanne K. Rowling später für „Harry Potter“ aufgriff.
1991 stirbt Anna Gmeyner in York. Von den meisten Menschen, denen sie im Laufe ihres Lebens in Wien, Berlin, Moskau, Paris und London begegnet ist und künstlerisch verbunden war, sind umfangreiche biografische Informationen und Werksverzeichnisse überliefert. Zu Anna Gmeyner, deren unstetes Leben und Schaffen noch vielfach im Dunklen liegt, findet sich in einschlägigen Lexika kaum etwas. Mit einer Würdigung ihrer Arbeiten als Autorin für den Film soll an diese außergewöhnliche Frau und einen bislang kaum beachteten Teil ihres OEuvres erinnert werden – denn: „Should auld acquaintance be forgot/And days of auld lang syne?“
(Brigitte Mayr, Michael Omasta)
1 „Anna Gmeyner. Eine Chronistin der Zeit“, in: „Berliner Zeitung am Mittag“, Nr. 135/7. 6.1933, S. 4–5. [Teil 9 der Artikelserie „Die Frau formt ihr Leben“, in dem Wissenschaftlerinnen, Autorinnen und Künstlerinnen vorgestellt wurden, die ihren Weg gemacht haben]
2 Ebd.
3 Berliner Börsen-Courier, 29.12.1932.
4 Roy Boulting in einem Brief vom 20. November 1993, in: Jeanpaul Goergen (Hg.): Ernst Toller – Schallplatte, Rundfunk, Film. Berlin 1993, S. 22. (Übersetzung: Mayr, Omasta)
Folgende Filme, die unter Mitwirkung (Script) von Anny Gmeyner entstanden sind, werden bei der Diagonale 2009 gezeigt:
Du haut en bas
The Passing of the Third Floor Back
Pastor Hall
Thunder Rock